Wie ich zu meinem R16 kam.
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Bis Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts war meine Vorstellung vom eigenen Auto: klein, pfiffig, hart gefedert, sehr wendig und kurvenfreudig. Diesen Vorstellungen entsprachen am besten meine Mini Cooper und Autobianchi A112.

Dann suchte ich eigentlich einen sparsamen, komfortablen Kleinwagen und stieß bei einem VW-Händler auf einen Renault 6. Unter dessen weißem Lack schimmerte der Rostfraß nur so durch. Der Händler riet mir: „Nehmen Sie besser diesen da….“ und zeigte auf einen hellblauen Renault 16 gegenüber. Liebe auf den ersten Blick war es nicht: Was sollte ich mit einer behäbigen Familienkutsche? Andererseits hatte der Wagen etwas, das ich dennoch anziehend fand. Die Probefahrt ging über gut ausgebaute Bundesstraßen und holprige Feldwege in Oberbayern.

Das Auto erschien mir sehr leise und komfortabel, überraschenderweise übersichtlich, und das Schaukeln auf „Omas Wohnzimmersesseln“ machte zunehmend Spaß. Auch seine Lackfarbe „Babystrampelhosen“-Hellblau 456 akzeptierte ich eher mit jugendlicher Heiterkeit statt aus geschmacklicher Überzeugung.
1977 kostete dieser fünf Jahre alte R16 TL mit 45.366 km auf dem Tacho 4.600 DM – etwa die Hälfte seines einstigen Neupreises. Genauso viel hatte ich einst für einen einjährigen Austin Mini 1000 hinlegen müssen, und im Vergleich zu diesem hatte ich mindestens zweimal soviel Auto fürs Geld.

reuschel1Auch kannte ich die durchweg positive Bewertung des R16 in Autotests: sein Geradeauslauf, seine Unempfindlichkeit gegenüber Seitenwind, überzeugende Sparsamkeit bei befriedigenden Fahrleistungen, sein in der damaligen Mittelklasse nur vom Peugeot 404 erreichter hoher Fahrkomfort, besonders gelungene Raumausnutzung bei kompakten Abmessungen, insbesondere aber die neuartige Variabilität des Innenraums auf Grund seiner Verwandtschaft mit dem R4, die ihn sogar ein wenig „revolutionär“ erscheinen ließ – das waren Pluspunkte, die ihn von der Masse des automobilen Angebots der 70er Jahre wohltuend abhob.
Ohne Nachbesserungen ging der Start ins R16-Fahrerleben indes nicht: Als erstes flog die komplette Sitzgarnitur raus, die nach Hühnerstall stank. Der Vorbesitzer war Landwirt, und tatsächlich konnte ich eine Handvoll Hühnerfedern aus dem Innenraum einsammeln. Bei einem Renault-Händler erstand ich eine Garnitur schwarzer Kunstlederpolster samt großer Mittenarmlehnenkonsole, abschließbar und mit integriertem Aschenbecher – also Luxus pur und gleichzeitig Relikt eines nach Unfall ausgeschlachteten R16-Urtyps der ersten Baujahre.

reuschel2Weit wichtiger war allerdings der Austausch eines anderen Teils: Mit dem Solex-Vergaser kam dieser R16 auf der Autobahn nur nach langem Anlauf auf angezeigte 140 km/h. Wer den Bandtacho mit dessen Voreilung kennt, kann sich vorstellen, dass mehr als 120 km/h nicht drin waren. Also ersetzte ihn ein Webervergaser, und schon eilte der R16 derart davon, dass die Tachonadel rechts ins Unendliche über die maximal angezeigten 150 km/h hinaus „in Richtung Handschuhfach“ zeigte. Das waren immerhin gestoppte 156 km/h. Mit diesem kräftigen Antritt machte der R16 richtig Spaß. Nächtliche Autobahnfahrten Murnau-München-Stuttgart-Karlsruhe wurden mehrmals in 2 1/2 Stunden erledigt, was 142 km/h Schnitt bedeutete, aber auch in Richtung 14 Liter Benzinverbrauch auf 100 km.
Im Alltag war dieser R16 mit 7,93 L/100 km (Messbasis über 5 Jahre und 165.000 km) jedoch sparsam. Bei extrem schonender Fahrweise genehmigter er sich minimal 6,8 L/100 km; sein gutes Ausrollverhalten ohne eingelegten Gang im bayerischen Voralpenland trug dazu womöglich bei. Im echten Stadtverkehr waren allerdings weniger als rund 10 L/100km nicht erzielbar.

reuschel3Mein erster R16 sollte auch mein R16-Lehrstück sein. Denn es verging kaum eine Woche, ohne dass nicht irgend etwas zu beanstanden gewesen wäre – oft nur Kleinigkeiten, mitunter aber auch gravierende Mängel an Achsschenkeln, Kreuzgelenken, Radlagern, Antriebswellen, Bremssätteln, Bremskraftregler, Bremskraftverstärker, Stoßdämpfern, sämtlichen Komponenten der Elektrik, durch den Ausfall der Benzinpumpe oder – zu Zeiten des Solex-Vergasers – mehrfaches Lösen und Abfallen der Beschleunigerpumpe vom Vergaser.
Und dann der Rost: Bereits fünf Jahre nach der Erstzulassung hätte man den Wagen verschrotten können! Bei diesem Exemplar war Rost mehr im Vorderwagen an allen Blechfalzen zu finden. Die mit PU-Schaum gefüllten Ecken der Bleche zum Fußraum waren durchgerostet und sorgten bei Regen beständig für ein Fußbad. Das Unterbodenblech im Motorraum musste ebenso erneuert werden wie die Steh- und Dreiecksbleche sowie die vorderen Kotflügel, dann freilich die Seitenschweller. Im Wagenheck sorgte der durch Kondenswasser an der Oberseite lecke Tank für stetige Geruchsbelästigung, und durch die hinteren Radläufe wurde Spritzwasser auch in den hinteren Fußraum geschickt. Zweimal innerhalb von fünf Jahren mussten beide Auspufftöpfe erneuert werden.

reuschel4So gab es immer etwas zu reparieren, auszutauschen, zu schweißen und Angst schwitzend zu hoffen, „we shall overcome“, wenn der nächste TÜV-Termin anstand. Keinerlei Ärger machten freundlicherweise die Hinterradschwingen. Trotzdem beliefen sich sämtliche Reparaturen innerhalb von fünf Jahren auf gut 5.500 DM. Im wahrsten Sinne musste dieses Geld „geblecht“ werden, denn einen vorrangigen Kostenfaktor stellten Blechnerarbeiten dar.
Das Problem war: Ich mochte diesen R16 trotz allem, zumal sein Motor gesund und kräftig arbeitete, der Fahrkomfort – ob Kurz- oder Langstrecke (die längste Tagesstrecke ohne nennenswerte Ermüdung waren 1978 mehr als 1280 km) – alles mir Bekannte übertraf. Und jede intensive Beschäftigung mit seinen Macken vertiefte einmal mehr meine innige Beziehung zu diesem Auto-Tamagotchi, so dass ich davon nicht mehr lassen mochte. „Bis dass der TÜV uns scheidet“ wurde mein Versprechen, und je länger ich diesen R16 hatte, um so zuverlässiger wurde er. Ab 110.000 km gab es kaum noch Alltagsärger. Anlässe, ihn auf Grund von spontanem Ärger loswerden zu wollen, blieben aus. Und die Klimmzüge, um ihn über den nächsten TÜV zu hieven, hatten sowieso mehr mit Sportsgeist als mit Vernunft zu tun.

1979 gab es mit diesem R16 ziemlichen Ärger an der Grenze nach Frankreich. Gut eine Stunde hielten mich deutsche und französische Grenzbeamte in Lauterbourg fest und durchstöberten das Auto. Natürlich freuten sie sich über die nicht serienmäßige große Mittenkonsole und vermuteten mindestens einen Revolver darin. Auf meine Frage, ob sie denn einen Schwerkriminellen ausgerechnet mit einem R16 suchten, durften sie mir keine Antwort geben. Diese Prozedur wiederholte sich in zeitlich abgemilderter Form mehrmals sowohl in Lauterbourg wie auch in Wissembourg, ohne dass ich eine Erklärung dafür erhalten konnte.

1980 rief mich sogar die Kripo Karlsruhe an, ich möge mein Auto doch mal vorführen. Sie schauten unter die Schweller und in den Kofferraum – das war’s. Auf mein verwundertes Nachfragen antwortete man mir verschwommen, es gäbe da einen Unfall mit Fahrerflucht mit so einem R16, mehr könne man mir nicht sagen.

reuschel5Das nicht ruhen wollende Interesse der Polizei an meinem Auto ließ mich recherchieren. Und so kam ich eines Tages darauf, dass ein hellblauer R16 des Baujahres 1972 im April 1977 als erfolgreiches Fluchtfahrzeug bei einem Bankraub diente. Der Clou: Obwohl das Fahrzeug noch am selben Tag irgendwo aufgefunden wurde und sich anschließend auf unbestimmte Zeit in Polizeigewahrsam befand, fahndeten alle möglichen Polizeidienststellen und Grenzposten weiterhin in dieser Angelegenheit nach einem hellblauen R16. Da mein R16 erst im August 1977 auf mich zugelassen wurde, konnte ich der Täter wohl nicht sein.

1982 stand der nächste, höchst kritische TÜV-Termin bevor, und ich war zum ersten mal absolut sicher, dass eine überstürzte Rettungsaktion bzw. alle denkbaren Register der Überredungskünste die TÜV-Ingenieure nicht mehr hätten überzeugen können. Gut, ich hätte einen komplett neuen Unterboden, eine komplett neue Vorderwagen- wie auch Heckgruppe verbauen und meinem alten Freund neues Leben schenken können – solche Teile gab es damals schließlich noch.

Aber zufällig stand beim nächsten Renault-Händler ein recht gut aussehender R16 TX von 1975 in der hübschen Farbe Alpineblaumetallic 474 und mit satten 93 PS sowie dem günstigen Preis von 3235 DM bereit, den zehn Jahre alten, über 210.524 km abgenudelten R16 TL vergessen zu lassen.

Doch nie wieder war meine Beziehung zu einem R16 so intensiv wie zu meinem ersten. Und nie wieder blieb ich einem anderen Auto mehr als 165.000 km treu. Dreimal fuhr diesem R16 jemand ans Blech – einmal vorn in den Kotflügel, zweimal auf die hintere Stoßstange; für den R16 war es jedes Mal belanglos. Natürlich war dabei Glück im Spiel – auch ein Grund, so einem Auto treu zu bleiben.

Fast ein Jahr nach seiner Stilllegung habe ich gebraucht, bis ich ihn dem Schrotthändler übergeben mochte. Ich ließ einen Freund, dem „R16“ nichts bedeutete, diesen abscheulichen Vorgang abwickeln und war nicht dabei, als das gute Lehrstück in Sachen R16 abgeholt wurde. Bezeichnenderweise hatte ich das gute Stück in der Garage stehen, während mein fahrbereiter TX dieses eine Jahr lang draußen übernachten musste.

Der 72er R16 TL wollte sich nicht verabschieden: Beim letzten Anlassen, um ihn aus der Garage an die Straße zu fahren, damit der Schrottwagen ihn greifen konnte, sprang er sofort an, und nach dem Abdrehen des Zündschlüssels wollte er – oh Wunder – nicht wieder ausgehen! Ich musste ihn bei eingelegtem Gang und fest auf der Bremse stehend abwürgen…

Regin Reuschel , November 2005